Erfahrungsberichte Depression

Im Folgenden finden Sie einige Erfahrungsberichte Betroffener.

Auch wenn Erfahrungsberichte subjektive Eindrücke einer oft individuell erlebten Erkrankung darstellen, können diese anderen Betroffenen helfen – oft finden diese sich selbst in den Schilderungen wieder und können so ihre eigene Erkrankung besser verstehen und akzeptieren und vor allem auch neue Hoffnung und neuen Mut daraus schöpfen.

Auch für Angehörige sind Erfahrungsberichte von Betroffenen häufig eine große Hilfe, um den eigenen Freund oder Partner, Mutter oder Sohn besser verstehen zu können.

Wir haben hier einige Erfahrungsberichte für Sie zusammen gestellt, für die wir den Betroffenen sehr herzlich danken.

Pia über ihre Erfahrung mit Depressionen

Effi, weiblich, 54 Jahre

Weiblich, Jahrgang 1958, Dipl.-Ing-öec., verheiratet, selbständig als Publizistin und Büroleiterin Lohnsteuerhilfe

„Anfang 1996 merkte ich, dass mit mir was nicht stimmt. Schlaflosigkeit, überall Schmerzen, der Tag erschien zerknüllt wie eine alte Zeitung. Ich wusste nur noch, dass ich zum Arzt musste. Der war ziemlich jung und hatte die Praxis gerade übernommen. Er verschrieb mir Medikamente und die Sprechstundenhilfe riet mir, dass ich viel laufen solle. Meine Diagnose sagte man mir nicht. Die erfuhr ich vom Beipackzettel. Ich und Depression? Der Doc musste sich geirrt haben!

Hatte er nicht. Einige Blicke in Bücher bestätigten: Ich hatte eine Depression. Ich spürte das körperlich, die Adern brannten, die Nervenenden zappelten förmlich in der Gegend herum und nichts machte diesem Spuk ein Ende.

Was tun! Die Kinder waren 12 und 17 Jahre alt, wir hatten gerade begonnen, ein Haus zu bauen! Nichts ging mehr, und das Schlimmste: Ich konnte nicht mehr denken! Ich wollte das alles nicht, ich stampfte auf, suchte nach einem Ausweg. – Da las ich den Satz: Patienten mit Krankheitsbewusstsein genesen viel besser.

Sofort hatte ich ein Krankheitsbewusstsein. Ich begann, mich mit dem Thema zu befassen. Soweit es eben ging in diesem Zustand.

Mein Arzt hatte noch ein zusätzliches Medikament gefunden, damit ich endlich wieder einschlafen konnte, aber er stellte mir auch die Einweisung in die Klinik in Aussicht, wenn wir es so nicht schafften.

Ich erinnerte mich wieder an die Worte der Sprechstundenhilfe und lief und lief und lief. Und schwitzte und duschte drei Mal am Tag, weil dieser Geruch unerträglich war. Erleichterung brachte die Arbeit auf der Baustelle. Den Schultergürtel beanspruchen, schwitzen, im Dreck rumwühlen, sich körperlich erschöpfen, erst mal nichts denken...

Es gab noch nicht so viel Literatur wie jetzt. Ich las, was ich kriegen konnte und redete über meine Krankheit. Mit jedem der es hören wollte. Den Kindern musste man es ja erklären, dem Partner. Meine Mutter war in dieser Zeit ganz wichtig für mich. Sie kannte Depressionen aus alten Arztbüchern und sie sagte immer wieder nur den einen Satz: „Das heilt wieder. Hab Geduld Mädchen, das dauert.“

Nahezu besessen suchte ich nach Funken, die darauf hindeuteten, dass es endlich besser würde. Der Arzt hatte sich inzwischen getraut, mir zu sagen, dass ich eine „Gemütskrankheit“ hatte. Ich müsse in meinem Leben was ändern. O.K. – also Ursachenforschung.

Ich machte Statistik, welches Ereignis zu welcher dunklen Wolke im Gehirn führte, was ich tun müsste, damit es besser wurde — allein, ich fand NICHTS.

Irgendwann ließ ich dann locker und bemerkte, dass es mir besser ging mit einem bestimmten Duft, mit dem Orange der Ringelblume, mit einem Wort, das mir jemand sagte. Das baute ich aus. Die Hochs und Tiefs zogen sich auseinander, die Löcher waren nicht mehr so furchterregend.

Mehrere Versuche, die Dosis der Antidepressiva zu senken, schlugen bei mir fehl. – Ich hatte aber die Ursache für meine Erkrankung gefunden: Stoffwechsel! Einfach zu wenig Transmitter! – Also nehme ich die Medikamente weiter.

Seitdem lebe ich stabil und sicher und zu jedem Klassentreffen wird mir bestätigt, dass sich meine Persönlichkeit überhaupt nicht geändert hat.“

Christoph, männlich, 29 Jahre

Eckdaten

Ich bin 29 Jahre (geboren 1990 in Fürth), glücklich verheiratet und lebe mit meiner Frau Selina und zwei Häschen Lizzy und Johsy in Altleiningen (Pfalz). Vom Wunschtraum Schreiner, zum Bankkaufmann, zum Theologen, arbeite ich heute als Coach & Berater. Aufgewachsen bin ich in Fürth (Mittelfranken) mit meiner Mutter und meiner älteren Schwester. Meine Eltern trennten sich, als ich vier Jahre alt war. Meine Hobbys sind Laufen, Fußball, Bergsteigen und jegliche Art von Bewegung an der frischen Luft. Ich genieße guten Wein, fränkisches Bier und ab und an eine Pfeife. Ich mag diesen Duft :) Ich bin ein kreativer Mensch, der immer neue Ideen hat, das Abenteuer liebt und gerne neues wagt. Ich lebe seit meinem 12 Lebensjahr mit Depressionen. Diagnostiziert wurde sie aber erst im Alter von 22 Jahren. Hier ist meine Geschichte.


So hat es begonnen

Ich war 22 Jahre jung. Ich saß am Bettende, die Schultern hängend, in mich gekehrt, nachdenklich und innerlich angespannt. Um mich herum zwei weitere Betten, ein Tisch in der Mitte und um den Tisch drei Stühle. Auf den Stühlen saßen eine Pflegerin, eine Therapeutin und der Oberarzt. Es war wieder Zeit für die wöchentliche Visite. Eigentlich war es erst meine zweite Visite, doch die Worte des Oberarztes werde ich bis heute nicht vergessen: „Sie haben schwere Depressionen“ . . . Schweigen . . .  Herzklopfen . . . innerer Widerstand: „Echt jetzt, ich doch nicht, Depressionen haben andere, aber ich nicht, das kann nicht sein?“.  


Erster Schritt: Nimm's an

Es war Sommer 2012. Ich hatte vier Wochen Ferien. Mein zweites Ausbildungsjahr an der Bibelschule Kirchberg lag hinter mir. Ich studierte Theologie und wollte Pastor werden. Schon seit zwei Jahren merkte ich, dass etwas nicht mit mir stimmte. Ich hatte starke Kopfschmerzen, lag Nächte lang wach, die Gedanken kreisten und mein Körper war schwer wie Blei. Doch die Ärzte fanden nicht wirklich etwas heraus, alle Blutwerte waren OK. Im Seelsorgeunterricht gab es viele Hausaufgaben, wobei wir uns selbst reflektieren sollten (unsere Herkunftsfamilie, unsere Beziehungen, unsere Gefühlswelt usw.). Ich wusste um meine schwere Vergangenheit, traumatische Erlebnisse in der Kindheit und die aktuellen Herausforderungen in Beziehungen. Ich fühlte mich erschöpft, nach außen hin wirkte ich stark und zielstrebig, aber innerlich war ich total zerrissen, einsam und leer. Ich fühlte mich unverstanden von Gott und der Welt. Es war wie eine Faust, die mein Herz ständig umkrallte, und ich sehnte mich alleine zu sein, nichts mehr zu spüren von den quälenden Gefühlen. Den Fragen, wie es mir geht, versuchte ich aus dem Weg zu gehen. Ich konnte es nicht beschreiben, warum es mir nicht gut geht. Zumindest nicht so beschreiben, dass es jemand verstand. Wenn Menschen mir zu nahe kamen, wurde ich aggressiv, besonders in meiner Beziehung zu meiner Partnerin eine große Herausforderung. Ich sehnte mich nach Nähe, Verständnis und Liebe, doch ich konnte es nicht zulassen und spüren. Ich hatte in dieser Zeit starke Schuldgefühle gegenüber meiner Partnerin, wenn ich sagte, dass ich meine Ruhe brauche. Ich konnte es nicht erklären. Ich hatte ständig Angst zusammenzubrechen. Schon beim Aufwachen überkamen mich starke Ängste, wenn ich an den Tag dachte. Ich war sehr unruhig und angespannt. Es stimmte etwas nicht mit mir. Ich wollte die Sommerferien dazu nutzen, um in der psychosomatischen Klinik Hohemark mal genauer hinzuschauen. Ich bekam auch sehr schnell einen Platz. Mein Plan war: In vier bis sechs Wochen intensiv die Vergangenheit bearbeiten und zumindest halbwegs gesund wieder rauszugehen und weiter Theologie studieren. Doch es kam anders als geplant.

Insgeheim wusste ich, dass ich schon seit vielen Jahren sowas wie Depressionen mit mir herumtrage. Schon seit meinem 12 Lebensjahr kannte ich Gefühle wie Trauer und Freude nicht mehr (heute kann ich Freude wieder spüren und auch weinen und es sind unfassbar gute Gefühle J). Schon öfters dachte ich daran mir das Leben zu nehmen, weil ich diese schweren Gefühle von Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Freudlosigkeit nicht mehr aushielt. Doch es ging immer irgendwie weiter. Ich hatte meine Strategien, der Depression in meiner Jugendzeit aus dem Weg zu gehen. Eine Strategie war Leistungssport. Ich war Mittelstreckenläufer, trainierte teilweise 12mal die Woche, hielt mich an einen strikten Essensplan, bis ich irgendwann bei einer Größe von 1,80 m, 56 Kilogramm und einem Ruhepuls von 37 zusammenbrach. Die Folge 1,5 Jahre Pfeiffersches Drüsenfieber, Darmentzündungen und Krankenhausaufenthalte. Die eigentliche Krankheit war die Depression, die immer noch darauf wartete gesehen zu werden. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass gerade ich Depressionen habe. Mein Vater war manisch-depressiv und nahm sich das Leben, als ich 12 Jahre alt war. Meine beiden Onkel haben Depressionen. Mittlerweile ist es auch bei meiner Schwester und einem meiner Cousins diagnostiziert worden. Man kann also ohne weiteres von einer genetischen Disposition sprechen.

Ich hielt die Krankheit lange fern von mir. Ich war immer der Starke, derjenige, der alles selbst meistert, der perfekte Vorbildsohn. Immer da für meine Mutter in ihrer Rheuma Krankheit und ihren Nervenzusammenbrüchen. Immer da für meine ältere Schwester, die sehr früh an einer Essstörung und Waschzwängen litt. Doch irgendwie wusste ich: „Das was der Oberarzt an diesem Morgen sagte, ist absolut richtig und hat zu 100% etwas mit mir zu tun.“ Es dauerte ein paar Tage, bis ich mich mit dieser Diagnose anfreundete und dazu bereit war, der Depression ins Auge zu schauen. Um ehrlich zu sein, geht das nicht in ein paar Tagen, und ich bin auch heute noch dabei, die Depression als Teil in meinem Leben mit Liebe und Mitgefühl anzunehmen. Damals war ich so weit, dass ich JA sagte zu dem Weg, mir helfen zu lassen und die Depression anzuschauen. Mein Theologiestudium legte ich erstmal auf Eis. Vierzehn Wochen stationärer Aufenthalt, vier Wochen Tagesklinik und im Anschluss sechs Jahre Psychotherapie. Daneben natürlich die Behandlung mit Tabletten. Denn ohne Tabletten gehts nicht. Und noch dazu bin ich willensstark: „Ich schaffe das ohne Tabletten“, so meine innere Einstellung. Doch um in der Klinik zu bleiben und den Weg der Behandlung einzuschlagen, musste ich mich auf Antidepressiva einlassen. Widerwillig nahm ich die Tabletten ein, doch ich vertraute mich den Ärzten an. Sie haben Erfahrung und wissen, was sie tun. Was blieb mir anderes übrig? Zurück wollte ich nicht. Ich wollte gesund werden.


Zweiter Schritt: Geh' ran

Tabletten

In der Klinikzeit begann ich mit dem Medikament Trevilor (auch bekannt als Venlafaxin). Ich vertrug es ganz gut, wenngleich ich mir definitiv mehr davon erhoffte. Es wurde mir gesagt, dass ich damit antriebsstärker sei, mehr Freude empfinde und das Leben wieder positiver sehe. Doch irgendwie spürte ich das auch nach acht Wochen nicht. Die Medikamentendosis wurde also erhöht. Mit 225 mg wurde ich entlassen. Im Laufe der nächsten drei Jahre wurde das Medikament auf 300mg erhöht und das Medikament Elontril kam mit einer Steigerung bis 300mg dazu. 600mg Antidepressiva jeden Tag, das ist viel. Mittlerweile war ich neben ambulanter Gesprächstherapie bei zwei verschiedenen Psychiatern. Überall das Gleiche: „Wie geht es Ihnen?“ - „Noch nicht besser, immer noch antriebslos. Ich fühle mich leer, einsam und hoffnungslos. Wollen wir nicht mal andere Medikamente versuchen?“ - „Nein, ihre Medikamente sind sehr gut, und die Nebenwirkungen noch ertragbar. Wir erhöhen die Medikation. Es wird schon besser.“ Was sollte ich anderes machen, als den Ärzten zu vertrauen? Doch anstatt einer deutlichen Besserung wurden die Nebenwirkungen immer stärker. Das war oft nicht einfach, doch es gab auch Situationen, über die ich heute lachen kann (Humor ist eine wichtige Ressource, mit der ich heute der Depression begegne). Zwei Beispiele an dieser Stelle: Ein Polizist fragte mal bei der Polizeikontrolle: „Nehmen Sie Drogen? Sie haben so extrem große Pupillen.“ – „Ne das sind nur die Antidepressiva und damit ich sie besser sehen kann J.“ Und einmal war der Harndrang ganz plötzlich so stark, dass ich mir beim Autofahren in die Hose machte, oh war das peinlich J.

2015 zogen meine Frau und ich um, und ich kam zu einem neuen Psychiater. Dieser Mann hatte Ahnung. Er war vorher in der Forschung tätig. Er führte mit mir den Test ABCB1 und Stada Diagnostik Antidepressiva durch. Dabei stellte sich heraus, dass ich die letzten vier Jahre Tabletten einnahm, die gar nichts brachten, als nur Nebenwirkungen. Folgendes kam heraus: Mein Stoffwechsel ist so hoch, dass alle Medikamente, die über die Leber verstoffwechselt werden, gar nicht im Blut ankommen. Der andere Grund ist ein Eiweiß namens Glykoprotein, das bei mir aktiv ist. Es ist im Grunde etwas Gutes, da es dafür sorgt, dass Fremdstoffe aus dem Körper ausgeschieden werden. Doch in meinem Fall nicht so gut, denn die Antidepressiva, die mein Körper als Fremdstoff identifizierte, kamen nicht im Gehirn an. Man spricht hier auch von der Blut-Hirn-Schranke, die es bei mir nicht zulässt, dass der Wirkstoff der Medikamente ins Gehirn gelangt. Laut meines Psychiaters ist diese Kombination (Stoffwechsel und Glykoprotein) ein seltener Fall, und ich sei in der Depressionsforschung so etwas wie ein Leuchtturm, weil mir vor 20 Jahren noch gar nicht hätte geholfen werden können (das schmeichelt mir natürlich J). Die Folge war, dass meine Medikamente Venlafaxin und Elontril ausgeschlichen wurden. Es wurden neue Medikamente angesetzt. Milnaneurax: Ein Medikament aus Japan, das über die Niere abgebaut wird und so meinen erhöhten Stoffwechsel umgeht. Und eine Medikamentenkombination: Fluoxetin, ein ganz altes Medikament unter den Antidepressiva, und Mirtazapin, das dazu dient, die Blut-Hirn-Schranke zu umgehen. Und ich muss sagen, damit geht es mir ausgezeichnet gut, und ich spüre endlich, dass Medikamente was bringen. Und die Medikamente haben nicht nur Nebenwirkungen, sondern auch Vorteile. Mirtazapin, ein Medikament, das ich abends vor dem Schlafengehen einnehme, wirkt so gut, dass ich nach 30 Minuten sofort und überall einschlafen kann (das ist besonders im Flugzeug bei langen Flügen gut. Meine Frau ist ganz neidisch, dass ich da so tief und fest im Sitzen schlafen kann, während sie die ganze Nacht im Flugzeug wach ist J). Ich habe dank dieses Psychiaters eine Medikamentenkombination gefunden, die mir wirklich Antrieb gibt. Sicher sind da immer wieder Tage, besonders beim Medikamenten richten, an denen ich mir denke: „So viele Pillen, die du da wöchentlich schluckst, das muss doch schädlich sein für den Körper auf Dauer und beeinträchtigt das nicht deinen Kinderwunsch?“ Doch laut meines Psychiaters sind diese Medikamente Langzeit erprobt und ohne nachweisliche Folgeschäden oder Beeinträchtigung auf die Fruchtbarkeit. Vermutlich muss ich sie angesichts meiner genetischen Disposition ein Leben lang nehmen, was mir hin und wieder schwer fällt zu akzeptieren. Doch eine Depression ist eben eine Krankheit und wie bei einer Schilddrüsenunterfunktion sind Medikamente hier absolut wichtig und steigern die Lebensqualität deutlich. Und darauf vertraue ich und gehe meinen Weg mit den Medikamenten weiter.

Psychotherapie

Depression ist eine ernstzunehmende Krankheit. Medikamente sind sehr unterstützend, aber kein Allerheilmittel. Es braucht eine gute Psychotherapie, gepaart mit ergänzenden Heilmethoden. Ich hatte in fünf Jahren über 100 Sitzungen Gesprächstherapie. Da ich zweimal umgezogen bin, auch drei verschiedene Psychotherapeuten. Hier ging es neben der Aufarbeitung meiner Verletzungen in der Kindheit darum, gut für mich zu sorgen, meinen Alltag zu gestalten, Frühwarnsignale zu erkennen und dem schwarzen Loch frühzeitig entgegenzuwirken. Der Wert der Psychotherapie lag für mich darin: Dass ich regelmäßig einen Ort hatte, an dem es um mich ging. Einen Ort, an dem ich mich mit mir auseinandersetze und Menschen sind, die mir aufmerksam zuhörten. Es war eine gute Zeit, weil ich mich um mich gekümmert habe. Ja es gab auch viele Stunden, nach denen ich rausgegangen bin und mir dachte, was hat das jetzt gebracht? Das weiß ich doch alles schon, was der mir da sagt. Oder Tage, an denen ich keine Lust hatte, mich wieder aufzumachen zum Therapeuten. Doch im Gesamten blicke ich dankbar zurück, dass ich diese Hilfe in Anspruch genommen habe, denn sie hat mir Stabilität im Alltag gegeben und mir geholfen, dran zu bleiben.


Dritter Schritt: Bleib' dran

Es ist mal wieder ein Tag im Homeoffice. Mails, Abrechnungen und Vorbereitung der nächsten Predigt für Sonntag. Für mich nicht immer einfach. Selbst aufstehen, sich selbst strukturieren und den ganzen Tag alleine zu Hause. Ich merke, die Depression will mich an solchen Tagen wieder überkommen. Gefühle von Leere, innerer Unruhe, Antriebslosigkeit, Sinnlosigkeit machen sich da breit. Ich will die Decke über den Kopf zusammenschlagen und schlafen. Doch ich weiß, wenn ich das tue, dann wirds nicht besser. Also trete ich mir in den Hintern, schlüpfe in die Laufschuhe, Musik aufs Ohr und raus in den Wald. Wer depressiv ist, der muss sich in den Hintern treten. Eine Form, die mir dabei hilft, ist das Laufen. Die frische Luft, die Bewegung, am Ende etwas geschafft zu haben, erfüllt mich mit Zufriedenheit und dabei schütte ich ja auch noch viele von den tollen Glückshormonen aus. Neben dem Laufen ist es für mich gut, immer mal wieder mit Menschen darüber zu reden, wie es mir mit der Depression geht. Es ist für mich wichtig, mich auf dem Laufenden zu halten über meine Krankheit, Artikel zum Thema zu lesen usw. Dranbleiben bedeutet für mich auch, wenn ich mal wieder scheitere und im Bett liegen bleibe, mich um mich selbst kreise, aus der Spirale der Schuldgefühle nicht rauskomme und mich bemitleide, wenn ich also wieder nicht rauskomme aus dem Loch, dass ich mich dann nicht selbst runtermache, sondern sage: „Ok, es ist so, ich nehme es an, morgen ist ein neuer Tag.“ Hier gilt für mich der Spruch: „Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, weitergehen.“ Depression ist für mich eine Krankheit, mit der ich heute gut leben kann, weil ich am Steuer sitze und nicht die Depression am Steuer meines Lebens sitzt. Ich nehme die Depression in den Blick. Ich lehne sie nicht ab, sondern nehme sie an und sorge gut für sie. Morgen geh ich mit ihr mal wieder in die Sauna. Die Wärme und Entspannung wird ihr gut tun, nach einer anstrengenden Woche. Und es ist für mich wertvoll, wenn Menschen wie meine tolle Frau mich ermutigen: „Du machst das gut mit deiner Krankheit, ich bin stolz auf dich.“


Vierter Schritt: Glaub' dran

Ich habe so viele Jahre nicht mehr daran geglaubt, dass sich etwas ändern wird. Ich hatte solche Todessehnsucht. Es war alles nur noch schwer für mich. Ständig körperlich angespannt und eine Seele, die weint und schreit. Ich sah kein Licht am Ende des Tunnels. Doch da ist ein Licht. Heute mache ich Menschen Mut, dass es Hoffnung gibt und Depression eine Krankheit ist, mit der Mann und Frau gut leben kann. Ich habe es selbst erlebt. Es gibt immer Hoffnung, auch wenn wir sie gerade nicht spüren, auch wenn wir sie jahrelang nicht spüren.

Ich bin Christ. Ich glaube daran, dass Gott Wunder tun kann. Allerdings habe ich auch erlebt, dass Gott nicht so handelt, wie ich das gerne hätte. Und dass es manchmal echt schwer fällt, daran zu glauben, dass Gott Gebete erhört. Wie oft habe ich um Besserung und Gesundheit gebetet. Doch Gott ist kein Wunschautomat, auf den ich oben draufdrücke und unten kommt heraus, was ich möchte. Gott ist für mich viel mehr, unfassbar, unverfügbar und groß. Aber vor allem ist er für mich: Die Liebe. Und seine Liebe, seine Wege und seine Gedanken über mein Leben sind so viel größer, besser und weiter, als ich je verstehen werde. Darauf vertraue ich jeden Tag neu. Das hat mich auch durch die Depression getragen. Gott weiß schon was er tut, habe ich mir oft gesagt. Ich tue nichts, sondern vertraue einfach darauf, dass ER da ist. Mein Taufvers ist: „Aber denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Ich bin heute dankbar, dass ich diese Krankheit habe, sie hat mich zu dem gemacht, der ich bin (ich weiß, das ist ein steiler Satz und kann ich auch nur für mich persönlich im Rückblick so sagen). Ich bin dankbar, dass Gott mir nicht einfach mit einem Fingerschnipsen die Krankheit genommen hat. Und in der Krankheit Depression liegt eine Kraft. Da sind Menschen, die jeden Tag die Kraft haben, mit diesen unsagbar schweren Gefühlszuständen klar zu kommen. Menschen, die weitergehen und nicht aufgeben, trotz großer seelischer Not. Jeder Mensch mit Depressionen ist unglaublich stark. Und ich glaube daran, dass wir nicht einfach depressive Menschen sind, die der Krankheit hoffnungslos ausgesetzt sind. Ich glaube, dass jeder Mensch mit Depressionen einzigartig ist und in ihm eine große Kraft steckt für diese Welt. Ich glaube daran, dass viele depressive Menschen eine wichtige Botschaft für diese Welt haben, und ich möchte Menschen ermutigen, genau das wieder zu erfahren: Das Potenzial, das in ihnen steckt, auch und gerade in der Krankheit.

Ausblick

Ich weiß, dass da immer wieder diese schweren, grauen Tage, Wochen und Monate kommen werden. Aber ich weiß auch, dass jeder geschaffte Tag mich stärker macht, mich formt und voranbringt. Ich nehme Depressionen an als einen wertvollen Teil in meinem Leben, der mich zu dem macht, der ich bin. Und heute kann ich dank Tabletten, Psychotherapie, Coaching, Laufen, Freundschaften und meiner Frau auch wieder Freude spüren, weinen und die sonnigen Tage des Lebens genießen. Es tut gut, sich lebendig zu fühlen.

Christoph

Elfriede, weiblich, 62 Jahre

Einführung

„Viele Jahre wusste ich nicht, was eine Depression wirklich ist, bis es mich 1993 erstmals erwischte. Ich war damals 55 Jahre alt. Seither hatte ich drei schwere depressive Phasen.

  1. 04. Okt. 1993 - 02. Mai 1994
  2. 01. Jan. 1996 - 11. Aug. 1996
  3. 24. Mrz. 1999 - 19. Juli 1999

Ich habe in diesen Zeiten viele Bilder aus Märchen verstehen gelernt und es sind bei mir auch neue Bilder entstanden.

Bald bemerkte ich, man kann über alle Krankheiten sprechen, über einen Herzinfarkt, über Krebs, sogar über Aids. Aber über der Depression liegt ein Schleier. Erst als ich im Bekannten- und Verwandtenkreis begann, über meine Krankheit zu reden, mich zu ihr zu bekennen, merkte ich, wie viele Menschen oder deren Angehörige ähnliche Erfahrungen mit der Krankheit hatten oder gar über einen Suizid in ihrer Umgebung erzählten.

Es ist meine Intention, den Schleier zu lüften, darunter zu schauen, nicht unter dem fachlichen Aspekt, sondern als Betroffene zu berichten, wie es mir ergangen hat, wie ich meine Depressionen überstanden habe.

Ich möchte vermitteln, dass eine Depression eine normale Krankheit ist, so unnormal man sich dabei auch fühlen mag.

Jeder Mensch ist eine eigene Persönlichkeit und unterscheidet sich von allen anderen. Ich glaube, dass sich auch jede Depression anders gestaltet, wenngleich es viele gemeinsame Merkmale gibt. Ich kann nur von meinen depressiven Phasen sprechen, nur berichten wie ich sie durchlitten aber auch er-lebt habe. Die Auslöser der verschiedenen Phasen waren unterschiedlich und auch der weitere Verlauf.


Auslöser meiner Depression

Meine erste Depression kann ich erst im nachhinein als solche einstufen. Ich wusste wenig über die Krankheit, es ging mir nur miserabel. Heute würde ich sagen, massive Verlusterlebnisse waren der Auslöser. Da war die für mich sehr schmerzhafte Trennung von meinem Mann. Ich zog von dem bisherigen gemeinsamen Wohnort in die Nähe meiner Arbeitsstelle. Ich hatte viele Jahre ein sehr freundschaftliches, gutes Verhältnis zu meinem Arbeitgeber und seiner Familie. Zwei Monate nach meinem Umzug verstarb plötzlich mein Chef und ein Monat darauf sein kleiner Sohn. Nach vier Monaten wurde die Firma geschlossen und ich war erstmals in meinem Leben arbeitslos, was für mich neben der finanziellen Einbuße einen Makel bedeutete. Beim Arbeitsamt sagte man mir, in meinem Alter sei ich „schwer vermittelbar“. Dann griff die Krake zum ersten Mal zu. Wer die Krake ist, beschreibe ich später.

Als Auslöser für die zweite Depression würde ich „Überforderung“ nennen. Ich neige dazu, mich zu überfordern, will alles perfekt und gut machen, meine alles können zu müssen und alles zu schaffen.

Ich hatte mich ein Jahr nach der ersten Depression zu einem Studium entschlossen und gleichzeitig mit der Zusage für den Studienplatz eine ABM Halbtags-Stelle vom Arbeitsamt vermittelt bekommen. Ich glaubte auch das zu schaffen. Vormittags Vorlesungen, nachmittags Büroarbeit, abends, am Wochenende und in den Ferien versorgte ich noch 3.000 qm Garten und bereitete mich auf Prüfungen vor. In den Weihnachtsferien fing dann das mir inzwischen schon vertraute schlimme Gefühl wieder an. Diesmal dauerte es sieben Monate, wovon 5 Wochen Klinikaufenthalt waren und ich das Studium unterbrechen musste.

Nach Beendigung der Depression konnte ich das Studium wieder aufnehmen, um eine Praxis-Erfahrung reicher.

Einen Auslöser für die dritte Episode konnte ich zunächst gar nicht erkennen. Aber wenn es so etwas gibt wie eine „Entlastungsdepression“, dann war es eine solche. Die ABM-Stelle war abgelaufen, das Studium mit sehr gutem Erfolg und einem Diplom beendet. Anfang März 1999 war Zeugnisverleihung, glücklich und stolz (immerhin war ich inzwischen Großmutter geworden) hielt ich mein Diplom in Händen, bis bereits am 24. März die Depression die Überhand gewann.

Es mag verwundern, dass ich die Zeiten meiner Depressionen so präzise angeben kann. Aber bei mir kam es nie schleichend und hörte nie langsam auf. Ich kann auf den Tag genau sagen, „jetzt ist es wieder soweit“ oder „jetzt ist es weg“. Es ist wie ein Lichtschalter, der entweder an oder aus ist. Ich habe nie „ein bisschen Depression" oder bin „ein bisschen gesund“. Das ist bei anderen Mitpatienten nicht so. Aber eine Frau konnte es noch genauer als ich angeben. Sie sagte mir, bei ihr sei es „beim Pfannkuchenbacken“ aufgetreten. Ist das nicht lustig? So traurig man in der Depression auch ist und so wenig es zu lachen gibt, manchmal gibt es so kleine Pfannkuchenschmunzelgeschichten.

Ich bin mir nicht einmal ganz sicher, ob es wirklich die „Auslöser“ waren. Im nachhinein lässt sich immer etwas finden, was man als Auslöser bezeichnen kann. In jedem Lebenslauf gibt es traurige und freudige Ereignisse. Kommt die Depression, gerade wenn es auch eine Stoffwechselstörung ist, auch ohne besonderen Anlass, beim Pfannkuchenbacken sozusagen? Auch bleibt die Frage unbeantwortet, warum manche Menschen auf schwere Schicksalsschläge mit einer Depression reagieren und andere nicht.


Zeichen meiner Depression

Mögen Auslöser und Verlauf von Depressionen verschieden sein, in Gesprächen privat und in der Klinik habe ich erfahren, dass ich mit meinen Beschwerden nicht alleine bin. Die meisten Patienten kannten ähnliches.

Bei mir fängt „Es“ mit einem Gefühl an, dass plötzlich alles anders ist. Es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ich bin kein ängstlicher Mensch, weiß, was ich will, schlafe in der Regel gut, esse gern und habe viel Freude an der Natur. Das ist in der Depression alles anders.

Angst kriecht den Rücken hoch, ich kann mich nicht mehr für irgendetwas entscheiden, kann mich schwer konzentrieren, habe Schlafstörungen, bin appetitlos, nichts macht mir mehr Freude, ja, ich bin unfähig, Kleinigkeiten zu erledigen und kann mich schließlich nicht mehr selber versorgen. Dazu kommen körperliche Symptome.

Das sieht im Einzelnen so aus:

Angst
Diese Angst ist ganz diffus. Ich habe vor nichts Konkretem Angst, aber sie ist immer da. Wolken und Wind machen Angst, oder ein Band einer Baustellenabsperrung, das sich im Wind bewegt. Am liebsten möchte ich die Bettdecke über mich ziehen und mich schützen.

Entscheidungsunfähigkeit
Da ist es z.B. vorgekommen, dass ich mir vornahm, ich will Brot kaufen. Es kostete Mühe, überhaupt zum Bäcker zu gehen. Dann stand ich im Laden und ließ erst mal alle Leute vor. Was sollte ich nur für ein Brot nehmen. Roggen oder Sonnenblumenkernbrot, Weizen oder Mischbrot? Mein Gott, was nehme ich bloß, gleich komm ich an die Reihe. Aber bevor es so weit war, drückte ich mich durch die Ladentüre wieder hinaus. Ich konnte mich nicht entscheiden.

Schlafstörungen
Die ersten Tage in der Depression wache ich sehr früh auf und kann nicht mehr einschlafen. Dies steigert sich dann bis ich z.B. um 23:00 Uhr schlafen gehe und bereits um 1:00 Uhr aufwache. Wenn ich gesund bin, habe ich keine Schlafprobleme. Ich schlafe durch und selbst wenn ich einmal – nachdem ich abends zuviel schwarzen Tee getrunken habe – nicht so gut schlafen kann, nehme ich nachts ein Buch und lese, bis ich wieder einschlafe. Anders in der Depression. Da wird das Nichtschlafenkönnen zur Qual. Die Ängste sind riesengroß. Alles ist so schlimm, dass man glaubt, es nicht mehr ertragen zu können. Man kann nicht lesen, es ist sowieso alles sinnlos. Mir hat etwas geholfen: aufstehen und schreiben. Aber manchmal gelang auch dies nicht.

Morgentief
Die Nacht ist schlimm, aber dann kommt der Morgen. Schonungslos. Mein Gott, wieder ein Tag. Wie steh ich ihn durch? Am besten bleibe ich liegen. Aber ich habe bald gemerkt, dass dies noch schlimmer ist, zumindest bei mir. Doch kostet es ungeheuere Kraft aufzustehen. Es gibt ja nichts, worauf man sich freuen könnte. Warum überhaupt leben? Alles ist so mühsam.

Mir hat am Morgen die Aussicht auf den Abend geholfen. Abends wurde es bei mir immer etwas besser. „Wenn die Sonne untergeht, geht auch die Depression unter“. Das habe ich auch so empfunden. Abends gegen 17:00 Uhr bis Mitternacht war meine beste Zeit; so gut, dass ich manchmal glaubte, jetzt ist es vorbei. Am Morgen, d.h. meist noch während der Nacht wurde ich eines besseren – d.h. schlechteren – belehrt.

Appetitlosigkeit
Ich koche gern und esse gern und das mit Genuss. So ist das, wenn ich gesund bin. Davon ist in der Krankheit nichts mehr zu merken. Ich kann nicht einkaufen, kann nicht kochen, mag nichts essen. Ja selbst zum Trinken muss ich mich zwingen. Einmal habe ich mir mit Mühe Tee gekocht. Da stand dann die Tasse vor mir. Aber warum sollte ich ihn trinken. Ich mag nichts mehr, ich brauche nichts mehr. Und wenn ich verhungere und verdurste, dann ist es eben endlich vorbei. Kein Gesunder kann diese Gedanken verstehen und auch mir selber kommen sie jetzt im Nachhinein fremd vor. Und doch weiß ich noch, dass ich damals die Tasse Tee in das Spülbecken gegossen habe.

Welch eine Gnade und Geschenk in solchen Zeiten Familie oder Freunde zu haben. Bei mir war es eine liebe Freundin, zu der ich schon zum Frühstück kommen durfte, mittags und abends. Ich aß wenig, aber in Gemeinschaft hat das Verhungern weniger Chance. Zu Beginn der Depression habe ich immer mehrere Kilo abgenommen, aber der Appetit und damit das Gewicht stellen sich nach der Krankheit wieder schnell ein.

Die graue Brille
So wie Verliebte alles durch eine rosa Bille sehen, sind die Gläser der Depressiven grau gefärbt. Die wunderschönen Blumen im Garten habe ich nur als Belastung gesehen, das Unkraut schien mir über den Kopf zu wachsen. Ich hasste sonnige Tage, weil ich nicht über das schlechte Wetter jammern konnte. Umweltzerstörung und Pfingsthochwasser 1999 nahmen katastrophale Ausmaße an und bedrohten mich, ohne direkten Anlass, persönlich. Die schönsten Landschaften waren mir egal. Keine Freude, keine Lust am Leben, das ich sonst so gerne mag.

Unfähigkeit den Alltag zu bewältigen
Das fing schon am frühen Morgen an. Aus dem Bett gequält, ins Bad gegangen, fand ich mich wieder mit hängendem Kopf am Badewannenrand sitzend, in der Absicht die Zähne zu putzen. Für jeden gesunden Menschen Alltag und Routine. Mir fehlte jeglicher Antrieb. Von selber ging gar nichts mehr. Ich musste vom Kopf her den Händen befehlen: „Nimm den Zahnputzbecher in die Hand, dreh den Wasserhahn auf, nimm die Zahnbürste, die Zahnpasta“ ... und so weiter. Man kann es sich kaum vorstellen, aber so war es. Die Prozedur der Morgentoilette kostete so viel Kraft, dass ich anschließend wieder kraftlos und müde war. Jetzt bloß nicht nachgeben und nicht hinlegen. Lieber Gott lass Abend werden.

Versagensgefühle
Klein und dumm fühle ich mich in der Depression. Ich kann nichts und bin nichts wert. Wenn mich dann jemand an meine guten Zeugnisse erinnert, behaupte ich allen Ernstes, das sei ein Versehen. Eher haben sich 20 Professoren getäuscht, als dass ich glaube, dass ich etwas kann.

Schuldgefühle
Ich fühle mich in der Depression insofern schuldig, als dass ich glaube, undankbar zu sein. Anstatt zu jammern, weil es mir so schlecht geht, müsste ich mich eigentlich freuen, dass ich keine Sorgen habe und in so vielen glücklichen äußeren Umständen lebe. Aber die Freude gelingt mir nicht, was mir wiederum Schuldgefühle macht. „Selber schuld an der Depression.“

Körperliche Beschwerden
Ich bin körperlich sehr gesund und habe eigentlich nie Schmerzen. In der Depression tauchen sie auf, heftig und an verschiedenen Stellen. Ich spüre einen starken Druck im Kopf und auf den Ohren. Auf der Brust habe ich ein Engegefühl, als wäre ein eiserner Reifen darum gezogen. In der Magengegend tut es richtig weh, als hätte ich einen Boxerschlag hineinbekommen. Diese Symptome waren besonders im ersten Depressionsmonat schlimm und ließen dann in der Klinik nach. Nicht nachgelassen hat ein sehr starkes Zittern der Hände, das erst verschwand, als die Depression vorüber war. Auch fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren oder ein Buch zu lesen.


Ein Fest in der Psychiatrie

Muss dahinter nicht ein großes Fragezeichen stehen? Können kranke Menschen, unfähig sich zu freuen, ein Fest veranstalten? Und falls sie es können, sind sie dann nicht auch fähig, wieder ihren Alltag zu bewältigen, wieder arbeitsfähig?

Die Schwestern versicherten, sie könnten sich nicht erinnern, dass je so etwas möglich war und das Besondere sei, dass es von den Patienten ausgegangen und durchgeführt worden war.

Ein junger Mitpatient brachte mich auf die Idee. Er beklagte, dass wir alle so isoliert seien, jeder in seiner Glocke hocke und wir gar nichts gemeinsam unternehmen würden. Er hatte seine Gitarre in die Klinik mitgebracht und an Tagen, an denen es ihm etwas besser ging, übte er auf seinem Instrument. Musik zu haben, das wäre doch schon ein wesentlicher Bestandteil eines Festes. Bei einer der wöchentlich stattfindenden Stationsversammlungen warb ich um Mitstreiter. Bekam aber immer nur zur Antwort: „Mir geht es so schlecht, ich kann nicht.“

Da versuchte ich es in Einzelgesprächen und es gelang, fünf Patienten zusammenzubekommen, die sich trauten, gemeinsam zu singen. Ein Zivildienstleistender blieb freiwillig länger und unterstützte mit seiner kräftigen Stimme die Gruppe.

Zwei Frauen, eine davon kurz vor der Entlassung, erklärten sich bereit, im kliniknahen Supermarkt etwas für das Fest einzukaufen. Jemand übernahm, zwei Mark von jedem Patienten dafür einzusammeln. Manche gaben mehr und so konnte reichlich an guten Säften und Knabbersachen gekauft werden.

Ich redete mit dem Gärtner und er schnitt mir Buchs für die Dekoration. Der Mann einer Patientin brachte Rosen für den Tischschmuck. Im Garten stahl ich fünf weiße Blüten eines japanischen Blumenhartriegels. Der sah bezaubernd zwischen grünem Buchs und roten Rosen aus. Die Schwestern lieferten Tischdecken und verwandelten mit Kerzen die Resopaltische in ein feines Restaurant. Es sah wirklich sehr vornehm aus. Einer sehr kranken jungen Frau, die kaum mit jemanden sprach und sich nicht am Fest beteiligen wollte, fiel plötzlich ein, dass sie Servietten zu kleinen Schwänen falten konnte und bald saßen mehrere Patienten bei ihr am Tisch und sie gab Anleitung, wie es zu machen sei.

Die Sängergruppe übte inzwischen fleißig die Texte, die ich mit sehr zittrigen Händen am Klinikcomputer getippt hatte. Am meisten haben mich die Aktivitäten auf der Station beeindruckt. Am Tag des Festes waren alle wie verwandelt. Frauen wuschen sich die Haare und legten Lockenwickler ein. Manche baten die Schwester um ein Bügeleisen, um einen Rock aufzubügeln. Männer tauschten ihre bequemen Trainingsanzüge mit frischen Hemden und ordentlichen Hosen. Die übliche Lethargie war einer ungewohnten Aktivität gewichen.

Es war kein langes und kein rauschendes Fest. Aber es war ein ganz besonderes.

Beinahe alle Patienten nahmen teil. Drei der diensthabenden Ärzte und einige Schwestern setzten sich dazu.

Der junge Mann spielte mit seiner Gitarre Irish Folk und erklärte den Inhalt der Stücke. In Beiträgen nahmen wir uns selbst, unsere Krankheit und den Klinikalltag auf die Schippe. Aber auch ein Gedicht, die „Mondnacht“ von Eichendorff traf den Wunsch vieler kranker Zuhörer:

„...und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande
Als flöge sie nach Haus.“

Da saßen wir mit unseren nassen Seelen-Flügeln und sehnten uns nach Haus.

Gut, dass der „Medikamenten Rap“ und der „Tavor Song“ wieder für Heiterkeit sorgten.

Kinderreime und Abzählverse wurden umgedichtet auf unsere Situation.

„Ene mene miste,
was rappelt in der Kiste.
Was rappelt denn in meinem Kopf
die Depression hat mich beim Schopf.
Ich zieh mich wieder raus –
und sie ist A U S.“

Ja wenn's so einfach wäre. Aber etwas ganz Ungewöhnliches war geschehen: In der Depressionsstation einer psychiatrischen Klinik wurde geklatscht und gelacht.


Bilder meiner Depression

Vom Artikel her ist der Herzinfarkt männlich und die Depression weiblich. Ich weiß, dass auch Frauen Herzinfarkte bekommen können und Männer depressiv sein können. Aber wenn ich von meiner Depression spreche, sage ich, „sie ist wieder da“ oder „ihr gelingt es, mich umzuwerfen“. Sie hat so in mein Innerstes eingegriffen, dass ich nicht sächlich darüber reden kann. Es ist, als hätte sich etwas über mich gestülpt, das mich handlungsunfähig macht. Mein Ich ist verschleiert, eine Sonnenfinsternis ist ein Bild dafür. Es schiebt sich etwas vor mich, undurchdringlich, das mir das Licht nimmt. Die Dunkelheit macht Angst. Wer ist dieses „ES“, das wie ein gefährliches Tier nach mir greift und doch selber ungreifbar bleibt?

Dieses „ES“ bekam für mich das Bild einer Krake. Nach dem Duden ist der Krake ein „großer Tintenfisch“ und männlich, aber für mich war es eben „DIE KRAKE“.

Die Krake
Meine Depressionen waren immer sehr heftig.
Darum muss dieses Bild nicht für andere Kranke zutreffen. Mir hat es aber geholfen, etwas vor Augen zu haben, mit dem ich mich mehr auseinandersetzen konnte als mit einer lateinischen Krankheitsbezeichnung. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so ausgeliefert, seit das „ES“ einen Namen hatte. 

Die Beschreibung dieser Krake ist schrecklich, aber die Depression ist es auch. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe diese Krake nie wirklich gesehen, mir ihre Existenz auch nicht eingebildet, sondern es ist nur ein Bild, mit dem ich die schlimmsten Phasen meiner Depression beschreiben kann.

Sie kommt
So wie die Angst meinen Rücken heraufkroch, kroch die Krake näher. Bis ich sie sah, eines Tages oben an der Zimmerdecke über meinem Bett glotzte sie mich an, um in den Morgenstunden zuzuschlagen. In meinem Tagebuch ist sie so beschrieben: „Sie hat lange violette Fangarme mit Saugnäpfen, die streckt sie nach mir aus und umklammert mich. Sie saugt mich aus. Ich bekomme kaum Luft. Sie spritzt ihr Gift in mich, das macht mich unfähig, mich zu bewegen. Aber ich schaffe es, ihr zu entkommen, indem ich aufstehe. Wenn ich in senkrechter Haltung bin, kann sie mich nicht so ergreifen, da packt sie mich nur noch „am Schopf“. Ich darf mich auch tagsüber nicht hinlegen, so stark der Wunsch auch sein mag, denn dann hat sie wieder viel Angriffsfläche. Diese biete ich ihr nicht, ich gehe anstelle dessen spazieren. Die Krake schleicht mir natürlich nach. Aber ich habe bemerkt, ich kann ihr manchmal davon laufen. Dazu muss ich sehr schnell gehen, dann holt sie mich nicht mehr ein. Ich bin zwar dann erschöpft, aber ich habe das Ungeheuer für ein paar Stunden abgeschüttelt.

Manchmal kämpfe ich nachts mit ihr. Da habe ich ihr schon mal einen Fangarm abgeschlagen. Aber leider war der am Morgen wieder nachgewachsen.“ Soweit mein Tagebuchauszug.
Ich habe lange nicht über dieses Krakenbild gesprochen, weil ich befürchtete, andern damit Angst zu machen. Jetzt, da ich gesund bin, finde ich es auch ein ziemliches Horrorbild. Aber so ist eben auch die Depression: ein Horror, die Hölle.

Während der Beschäftigungstherapie in der Klinik malte ich dann meine Krake: einen Kopf mit großen Augen und langen, rot-violetten Fangarmen mit Saugnäpfen, die nach mir greifen. Ich liege auf dem Bild ziemlich klein und hilflos im Bett. Aber über meinem Kopf wölbt sich ein kleiner Regenbogen wie ein Schutzschild, ein Hoffnungsschimmer, dass mich die Krake nicht ganz zerstören kann. Auf der anderen Seite des Bildes ist eine Sonne, die habe ich meistens gemalt, irgendwie ist die Sonne nie ganz untergegangen. Und da ist dann auch noch ein Kalender, so ein Tagesabreißkalender. Aber der Tag und der Monat sind nicht lesbar. Keine Freundin, kein Arzt kann einem sagen, wann man gesund sein wird. Der Kalender ist noch ziemlich dick und drückt meinen Wunsch aus, in diesem Jahr noch viele gesunde Tage zu haben. Dies hat sich tatsächlich erfüllt, im Juli wurde ich gesund. Auch ein bunter Schmetterling fliegt über das Bild, er bedeutet wohl das Hoffen auf Verwandlung. Die Aufteilung ist so, dass die mächtige überdimensionale Krake die eine Hälfte ausfüllt, Sonne, Kalender und Schmetterling ein Viertel des Blattes. Auf der „Sonnenseite“ ist unten auch ein Stück See zu sehen, an dem ich wohne.

Ich greife jetzt voraus, möchte aber diesen Krakenteil nicht so stehen lassen.

Sie geht
Während meines Klinikaufenthaltes 1999 hatte ich Gespräche mit einer Psychologin. Ihr konnte ich die Krake beschreiben, ohne ihr Angst zu machen. An einem Montag brachte sie mir von zuhause ein Buch über Meerestiere mit. Sie zeigte mir darin ein Bild eines schwimmenden Tintenfisches, eines Kraken. Ein Meerestier, das beinah elegant sich im Wasser bewegt, die Fangarme hinter sich wie einen Schleier herziehend. Ein völlig neues Bild meiner Krake.

    Ich male daraufhin ein neues Bild. Einen See (,der mir näher liegt als das Meer) mit hohen Wellen. Im Wasser schwimmt eine Krake, ähnlich der auf dem Bild im Buch, die von mir wegschwimmt. Ich stehe am Ufer und winke ihr nach. Neben mir steht meine Katze. Am Himmel wölbt sich ein Regenbogen. Dieses Mal sehr groß. Davor eine Schar Wildgänse, die in schöner Formation fliegen. Hinter dem Regenbogen sind noch dunkle Wolken zu sehen. Einen Regenbogen kann es eben nur nach Regen geben.


In meiner Erklärung des Bildes war mir der biblische Aspekt bewusst. Einerseits der Regenbogen als Versöhnung und Heilung. Aber auch die Ordnung der Genisis. Alles hat seinen Platz, seinen Ort. Die Vögel am Himmel, die Menschen und Landtiere an Land, die Meerestiere im Wasser. Zur Krake sage ich auf dem Bild: „Du hast mich besucht, jetzt hau wieder ab. Du gehörst ins Wasser und ich an Land. Schwimm fort, ich winke dir noch nach.“

Bald nachdem ich das Bild gemalt hatte, konnte ich aus der Klinik entlassen werden und wieder „an Land“ gehen. Es ist nicht so, dass mich das Malen geheilt hat. Die Zeit war reif. Die Psychologin hatte den tollen Einfall, mir mit dem Buch eine andere Sichtweise aufzuzeigen.

Ich kann nur spekulieren. Vielleicht wäre die Depression auch so vergangen. Vielleicht waren es die Medikamente, die endlich gegriffen hatten. Aber einen Anteil möchte ich dem Bild doch zuschreiben. Ich habe in einer Zeit, als ich mich noch sehr krank fühlte, gemalt, wie es sein könnte, wenn die Krake Krankheit mich verlassen würde.

Ein Satz aus dem Talmud kommt mir dabei in den Sinn: „Nichts in deinem Leben kann Wirklichkeit werden, das du nicht zuvor geträumt hast.“

Die Bilder sind keine Kunstwerke, sie sind sehr einfach und naiv gemalt. Aber mir haben sie geholfen, meine Depression anschaulich, bildhaft zu machen, sie ein wenig zu begreifen.


Suizid

Lebensmüde sein, sich das Leben nehmen, sich umbringen, Selbsttötung, Selbstmord, Suizid – hinter diesen Aufzählungen stecken Schicksale von Menschen, die sich in nüchternen Zahlen von Statistiken ausdrücken. Für mich ist es immer erschreckend, zu lesen, dass jährlich mehr Menschen durch Suizid umkommen, ihrem Leben also selbst ein Ende setzen, als es Tote bei Verkehrsunfällen gibt.

Von den an einer Depression erkrankten Menschen nehmen sich 15 % das Leben. So stimmt es also: „An der Depression stirbt man nicht, aber sie ist eine lebensgefährliche Krankheit.“ Dass dagegen nicht nur ein Kraut, eher „viele Kräutlein“ gewachsen sind, die den meisten Kranken helfen könnten, ist noch viel zu unbekannt. Mit „Kräutlein“ meine ich hier allerdings nicht Bachblüten und auch nicht, dass das Trinken von Melisse- oder Johanniskraut–Tee nachhaltig helfen kann; bei Depressionen gehört die Medikation in die Hand des Arztes.

Eigene Suizidgedanken
Sie sind mir wohl begegnet in meiner Krankheit, die Gedanken wie: Ich kann nicht mehr. Das halte ich nicht mehr aus. Ich werde sowieso nie mehr gesund. So kann und will ich nicht weiterleben. Diese Gedanken musste ich nicht etwa herholen oder konstruieren, sie kamen von alleine.

Die Krankheit Depression ist so schlimm, dass man glaubt, es wäre eine Lösung, eine Er-lösung tot zu sein, nichts mehr zu spüren. Damit unterscheidet sich die Depression von anderen Krankheiten. Während man bei übrigen Krankheiten wieder gesund werden möchte, will man in der Depression nur noch sterben, damit es endlich vorbei ist.

Es gab Zeiten in meiner Depression in denen ich vieles unter dem Aspekt „Taugt es, um mich umzubringen?“ geprüft habe: Ist das Seil dick genug? Trägt mich der Ast? Ist die Felswand hoch genug, das Wasser tief genug ... ?

Um zu überleben, habe ich vieles vom Kopf her gesteuert, denn eigentlich wollte ich ja nicht sterben. Nur das Leben war so unerträglich. Ich habe beinah trainiert. Stand ich an einem Bahnsteig und der Zug fuhr ein, hieß mein Programm: „Zwei Schritte zurück (nicht einen vor). Jetzt keine Bergtouren, lieber Wanderungen im Flachland. Geh nur ans flache Ufer des Sees, nicht an den Bootssteg, der ins Tiefe führt.“ Für Menschen, die in der Großstadt wohnen, mögen andere Programme gelten, wie: „Geh nicht auf das Dach des Hochhauses.“ usw..


Warum ich mich nicht umgebracht habe
Diesen Sieg wollte ich der Krake nicht erringen lassen. „Mein Leben nimmst du mir nicht!“

Es gelang mir in einigermaßen guten Zeiten Strategien zurechtzulegen, plausible Gründe zu finden, „es“ nicht zu tun. Die meisten davon haben äußere Antriebe, aber das tut dem Überleben sozusagen keinen Abbruch.

Da gibt es mein Enkelkind. Ich fand es einfach unfair in dessen Biographie eine Großmutter zu schreiben, die sich suizidiert hat. Meine Freunde und Familie, die Ärzte und Schwestern haben mich so lange in der Depression begleitet, ich kann sie jetzt nicht mit meinem Suizid enttäuschen.
Es gab so etwas wie einen religiösen Imperativ „Nur Gott ist der Herr über Leben und Tod“. Das hat mir die Entscheidung „soll ich oder soll ich nicht“ abgenommen. Es war wie ein Verbot „das darfst du nicht“, es steht also gar nicht zur Debatte und dies ist in Zeiten von Entscheidungsunfähigkeit recht wertvoll, zumal es um Leben und Tod geht.
Einen wichtigen Grund zu überleben gab es, den ich besonders gern erwähne. Er entbehrt nicht einer gewissen Komik: „Wenn ich mich jetzt umbringe, dann würde ich ja nicht mehr erleben, wie es ist, wenn ich wieder gesund bin.“

Dies hat einen Ursprung in einem Satz, den mir eine Freundin immer wieder vorsagte: „Jede Depression geht vorbei.“
Es wurde mein wichtigster Satz. Nach monatelanger Qual konnte ich es oft nicht mehr glauben, jemals da wieder rauszukommen.


Was können Angehörige und Freunde tun?

Jeder, der selbst die Krankheit erlebt hat, wird mir zustimmen, dass sich Freunde zurückziehen. Dies geschieht aus verschiedenen Gründen.

Zum einen sind Menschen in einer Depression verdammt anstrengend. Sie reden oft viel und lange von sich selber und ihrer Krankheit. Alles dreht sich um die Befindlichkeit. Oder sie sagen gar nichts. Wer hält das als Zuhörer schon aus?

Ein anderer Grund ist eine gewisse Hilflosigkeit. Man will helfen und weiß nicht wie. Da lindert kein Wadenwickel oder guter Zuspruch. Alles scheint ins Leere zu gehen. Nur wenigen gelingt es, das Richtige zu sagen, zu tun. Nur wenige gute Freunde haben den langen Atem.

Und doch sind es ganz einfache Dinge, die dem Depressiven den Alltag und die Krankheit erleichtern können.

Ich kann hier wiederum nur davon berichten, was mir geholfen hat.

Am liebsten waren mir die Menschen, die mich samt meiner Depression angenommen haben. Die nicht versuchten, mir die Krankheit auszureden (als wäre eine Depression eine eingeredete, eingebildete Krankheit). Noch erschwert haben meinen Zustand gutgemeinte Ratschläge, die meist damit begannen: „Du musst nur“, „versuch doch mal“, „du sollst“, „du darfst“ und „du darfst nicht“ und die alle mit Zusammenreißen, einen Tritt in den Hintern geben, sich nicht hängen lassen oder dem Rat nach einer Urlaubsreise endeten.

Ich war in der Regel zu schwach mich dieser Ratschläge und der Besserwisserei zu erwehren.

Viel mehr geholfen haben mir da ganz praktische Angebote. Gerade in der Zeit vor der Klinik, z.B. die Begleitung zum Arzt, oder die Hilfe bei der Versorgung, jemand, der für mich einkauft, mich zu einem Frühstück oder einem Essen einlädt.

Trotz aller Hilfe darf der Helfende den Kranken nicht vom Wunsch nach Aufnahme in eine Klinik abhalten. Oft kann die liebevollste Fürsorge einen Klinikaufenthalt nicht vermeiden.

Für mich war es eine ganz große Erleichterung, dass mich jemand in die Klinik gefahren hat. Meine Tochter wusch für mich die Wäsche während des langen Klinikaufenthaltes. Auch der Freundin bin ich dankbar, die mit mir in der Klinikzeit in ein Kaufhaus ging und mir half, Schnürsenkel und eine Gymnastikhose zu kaufen. So einfache Dinge können zum ganz großen Problem werden.

Einen Kartengruß oder Besuch in der Klinik zu bekommen, ist etwas Schönes. Da braucht es keine großen Blumensträuße und Geschenke, wichtiger ist, dass jemand Zeit hat und da ist. Viele Besucher haben Angst davor und stellen erstaunt fest, dass eine psychiatrische Klinik kein Gefängnis ist.

Schwieriger war es für mich, wenn sich Besuch zuhause angemeldet hat. Meine Erwartungen (nicht unbedingt die der Besucher) den Gästen etwas anbieten zu müssen, brachten mich in große Bedrängnis, konnte ich doch kaum für mich selber sorgen.

Als sehr kritisch empfand ich für mich die Wochenenden zuhause. Es gehört zum therapeutischen Konzept der Klinik, Patienten Samstag und Sonntag in ihre gewohnte Umgebung zu entlassen. Das ist gut gemeint, für mich war es schrecklich. Beim ersten Mal bin ich gleich am Samstagabend wieder in die Klinik gefahren, wo ich mich aufgehoben fühlte. Einmal bin ich in einen falschen Zug eingestiegen. Zuhause kamen die Anfangsängste wieder. Etwas besser wurde es, als eine Freundin mit mir diese Wochenenden verbrachte. Obgleich es mir immer am Sonntagabend schwer fiel, wieder durch die Klinikpforte zu gehen, war es doch wie ein Zurückfliegen in ein beschütztes Nest.

Es macht einen großen Unterschied, ob man in einer Familie erwartet wird oder in ein Alleinleben zurückkehrt, das im gesunden Zustand ganz gut bewältigt wird. In der Depression ist eben alles anders.

Geholfen hat mir auch das Wissen, dass von der Depression kein Schaden zurückbleibt. Da sterben nicht etwa Hirnzellen ab. Nach Abklingen der Depression ist man so klug oder so dumm wie vorher. Es ist, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.

Und dann ist da dieses oben erwähnte Zitat der Freundin: „Ich weiß, es geht dir sehr schlecht, aber ich weiß auch, jede Depression geht vorbei.“ Das wurde für mich ein ganz wichtiger Satz, weil ich nicht mehr glauben konnte, jemals da wieder rauszukommen.

 


Was mir half, die Depression zu überwinden

Die Zeit
Das ist ein Faktor, den ich nicht unterschätzen möchte. Ja, manchmal bin ich mir nicht so sicher, ob er nicht das Entscheidende ist. Jede Depression braucht ihre Zeit: einige Wochen, mehrere Monate, ein Jahr oder mehr. Bevor diese Zeit nicht abgelaufen ist, lacht die Krake nur über Medikamente und Psychotherapien. Ich kann bei meinen drei depressiven Episoden zwar am Ende sagen, jetzt hat das Medikament geholfen. Ich kann aber nicht sagen, ob die Krankheit nicht ohne Medikament ebenfalls verschwunden wäre.

Jede Depression geht vorbei, man weiß aber nicht, wann.

Das zu wissen und sich in Geduld zu üben, kann helfen, eine Depression zu überwinden. Ich konnte es anfangs ganz schwer und habe es einfach nicht glauben, nicht annehmen wollen, dass es ausgerechnet mich erwischt hat. Aber umso mehr ich mich wehrte, sträubte, zappelte, umso heftiger war die Umklammerung der Krake. Doch sich in Geduld und Gelassenheit zu üben ist ungeheuer schwer, wenn der ganze Mensch durch die Krankheit von einer Unruhe und Getriebensein erfasst ist.

Wie gut zu wissen: Jede Depression geht vorbei. (Man muss sich diesen Satz immer wieder sagen).

Ärztliche Behandlung
Eine Depression ist eine schwere Krankheit, die ärztlicher Behandlung bedarf. Man darf beim Arzt die Beschwerden schon beim Namen nennen, nur dann kann er erkennen, worum es sich handeln kann. Es passiert immer wieder, dass Patienten nur etwas von Schlaflosigkeit erzählen und dann Schlafmittel verordnet bekommen. Ich bin meinem Hausarzt dankbar, dass er das Krankheitsbild richtig einstufen konnte und mich anfangs sehr häufig in die Praxis bestellte, was mir eine gewisse Struktur gab. Ich bin dann zu einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gegangen. Es erstaunte mich, dass er über meine Symptome mehr Bescheid wusste, als ich. Das ersparte mir ein langes Erklären und ich fühlte mich verstanden und gut betreut. Ich bin auch der Meinung, dass er mir die richtigen Medikamente verordnete. Nur leider sprach meine Depression nicht darauf an.

Aufnahme in eine Klinik
Trotz dieser fachärztlichen Behandlung und liebevoller Betreuung durch eine Freundin fühlte ich mich miserabel. Ich konnte mich praktisch nicht mehr versorgen, meine Ängste quälten mich und die körperlichen Beschwerden wurden unerträglich. Ich bat den Arzt um eine Einweisung in die Klinik. Dies machte Außenstehenden seltsamerweise mehr Sorge als mir. Bei der dritten Depression wusste ich ja schon, was mich erwartete. Es ist wichtig, alle blöden Witze und Anspielungen über Psychiater und Nervenkliniken beiseite zu schieben. Sie werden von Leuten gemacht, die (noch) nicht von einer psychischen Erkrankung betroffen sind.

Auch haben wir immer noch ein Bild der Psychiatrie vor 40 Jahren im Kopf. Es hat sich viel getan. Die Klinik, in der ich mich befand, hat ein hübsches Gärtchen mit einem Wasserlauf, eine Turnhalle, eine Kegelbahn, einen Aufenthaltsraum mit einem Fernsehgerät. Ich weiß, dass mich das alles nicht gerade entzückt hat und ich keine besondere Freude empfand. So ist das eben in der Depression. Aber ich weiß auch, dass bereits nach ein paar Tagen meine schlimmen körperlichen Beschwerden nachgelassen haben und ich wieder einigermaßen schlafen konnte.

Ich fühlte mich angenommen, aufgenommen, geborgen, beschützt, betreut, versorgt, verstanden. Ärzte und Schwestern kannten meine Krankheit, niemand drängte und forderte mich etwas zu leisten, wozu ich nicht im Stande war.

Ich war auf einer „offenen Station“, d.h. ich konnte nach Absprache mit dem Arzt aus der Klinik in die Stadt gehen. Über Stunden. Doch war mir die Stadt zu turbulent, ich suchte lieber den Garten auf.

Auch spart man in der Depression viel Geld. Man braucht plötzlich nichts mehr.

Mitpatienten
Es erstaunte mich, wie viele junge Frauen und Männer an der gleichen Krankheit litten. Man tauscht sich aus und stellt fest, dass gleiche oder ähnliche Symptome bei allen vorhanden sind. Menschen aus ganz unterschiedlichen Schichten, mit unterschiedlichen Berufen sind für unterschiedlich lange Zeit zusammen. Mit manchen spricht man mehr, mit anderen weniger oder gar nicht. Manchen geht es besser, manchen schlechter. Allen gleich ist das Morgentief. Wer in einer Depressionsabteilung in den Frühstücksraum blickt, sieht stumme Gestalten traurig oder starr vor sich hinblickend. Manche weinen, die meisten können nicht mal das. Aber da sind die Schwestern und Pfleger, allesamt gut und speziell ausgebildet, die auch Zeit für ein Gespräch finden und über die unerträglichsten Stunden hinweghelfen.

Da gibt es die Ärztinnen und Ärzte, die auch außer der täglichen Visite erreichbar sind. Jetzt, wo ich gesund bin, frage ich mich, wie sie die endlosen Klagen und Fragen „Es geht mir so schlecht. Wann werde ich gesund? Wann komm ich da raus?“ ausgehalten und zu beantworten versucht haben.

Mir hat der Klinikaufenthalt sehr geholfen durchzuhalten, die Depression zu überwinden. Ich kann nur sagen: „Keine Angst vor der Psychiatrie“. Es ist schlimm, eine Depression zu haben, aber es ist nicht schlimm in einer Klinik behandelt zu werden.

Medikamente
Eng mit der Klinik verbunden ist die Verabreichung von Medikamenten, von Antidepressiva. Die Vorurteile stehen vor der Tür: In der Klinik wirst du vollgestopft mit Medikamenten und diese Medikamente machen abhängig. Nichts stimmt. Niemand hat mich oder Mitpatienten vollgestopft. Im Gegenteil: Es wird sehr genau und sorgfältig dosiert. Es kann schon sein, dass das erste Medikament keine Wirkung zeigt, ja nicht mal das zweite. Bei mir waren es noch einige mehr. Da braucht man schon einen langen Atem und ich habe mehrmals gedacht: Mir ist nicht mehr zu helfen. Es war schließlich das Lithium, das mir half. Oder war es die Zeit? Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal. Hauptsache Erlösung von der Geißel Depression.

Ich will hier nicht dem Absatz „Medikamente“ einen breiten Raum geben, das ist Sache der Fachleute. Mir ist es nur wichtig, nochmals darauf hinzuweisen, dass Antidepressiva nicht abhängig machen. Auch mit den Nebenwirkungen muss man differenzieren. So habe ich für mein starkes Zittern die Medikamente verantwortlich gemacht, in Wirklichkeit kam es von der Depression. So ist es auch mit einigen anderen Symptomen, die eher von der Krankheit als von den Medikamenten kommen.

Im Gegensatz zu den Antidepressiva machen verschiedene Beruhigungsmittel, Tranquilizer, sogenannte Benzodiazepine, sehr wohl abhängig. Ich habe festgestellt, dass Medikamente wie Tavor, Adumbran oder Valium viel leichter außerhalb der Klinik verschrieben werden, während Klinikärzte eher damit beschäftigt sind, Patienten davon zu entwöhnen. Eine Mitpatientin, die mit einer enormen Tagesdosis an Tavor in die Klinik aufgenommen wurde, sagte mir, die Depression sei furchtbar, aber der Entzug von diesem Suchtmittel sei noch schlimmer gewesen. Sie weigerte sich auch an besonders schwierigen Tagen auch nur eine halbe Tavor-Tablette zu nehmen.

Psychotherapie
Es gibt sicherlich Depressionen, in denen eine Psychotherapie hilfreich ist. Ich wäre während der Depressionen überhaupt nicht in der Lage gewesen, zu reflektieren, an mir zu arbeiten. Da ging es um das nackte Überleben. Im Anschluss an meine zweite Episode machte ich eine tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, die mir sehr viel gebracht hat. Die Auswahl einer guten Therapeutin oder eines Therapeuten ist ganz wichtig. Die Krankenkassen haben Listen der zugelassenen Fachleute. Hier geht man kein Risiko ein. Bei Bedarf übernimmt die Kasse die Behandlung.

Ich möchte hier nicht auf die verschiedenen Arten von Psychotherapie oder Therapien allgemein eingehen, das kann in vielen Büchern nachgelesen werden.

Information über die Krankheit
Es ist und war mir immer wichtig, zu wissen, was geht da in meinem Körper vor, warum kann ich in der Depression mein Denken, Fühlen und Empfinden so wenig beeinflussen, warum kann ich willentlich mich nicht aus diesem Zustand befreien? Was ist eine Depression? Wo kommt sie her und wie gehe ich damit um? Ich habe alles gelesen, was ich ergattern konnte und habe bei vielen Mitpatienten ähnliche Wünsche nach kompetenter Information gespürt. Es gibt wenig für Laien verständliche Fachliteratur. Ich halte es für hilfreich, wenn eine Auswahl an Büchern, in Form eines für alle zugänglichen Handapparates, auf den Stationen in Kliniken zur Verfügung stünde.

Das für mich nach wie vor wichtigste Buch ist: Depressionen überwinden. Ein Ratgeber für Betroffene, Angehörige und Helfer, herausgegeben von der Stiftung Warentest. Hier wird nicht nur das Krankheitsbild der Depression in verschiedenen Formen beschrieben, man erfährt auch etwas über biologische Zusammenhänge, es werden Therapiemöglichkeiten aufgezeigt und es gibt eine genaue Auflistung und Beschreibungen von Medikamenten. Man erfährt wie trizyklische Antidepressiva wirken und was selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sind. Es werden Fragen beantwortet nach der Lichttherapie, nach partiellem Schlafentzug oder der Einnahme von Lithium. Es gibt ein eigenes Kapitel über Depressionen bei Kindern und es wird die Frage behandelt „Depressionen – eine Frauenkrankheit?“ Schließlich gibt es Hinweise, wie man mit einem depressiven Angehörigen, Freund oder Kollegen sprechen kann und was zu tun ist, wenn man ihn in Gefahr sieht, sich etwas anzutun.

Michelangelo und die Neurotransmitter
Wahrscheinlich hat er sie ja noch gar nicht gekannt, die Botenstoffe wie das Serotonin oder das Noradrenalin. Aber Michelangelo hat in der Sixtinischen Kapelle die Erschaffung des Adams gemalt. Gott Vater streckt seinen Arm Adam entgegen und sein Finger berührt Adams Finger – beinahe. Aber zwischen diesen beiden Fingern bleibt ein Spalt offen. Ein Bild für den synaptischen Spalt. So wie der göttliche Funke überspringen muss, um diesem Menschen Adam Leben zu geben, müssen Impulse zwischen unseren Nervenzellen übermittelt werden. Den Spalt am Ende der einzelnen Nervenzellen können nur chemische Botenstoffe, die Neurotransmitter überspringen, damit die Kommunikation stimmt.

Man glaubt nun, dass in der Depression der Stoffwechsel im Gehirn insoweit gestört ist, dass Botenstoffe wie Serotonin oder Noradrenalin nicht in der richtigen Menge vorhanden sind oder aus der Balance geraten sind. Der Funke kann nicht überspringen. Wahrnehmen, Handeln, Fühlen, Urteilen, Empfinden, Denken stimmen nicht mehr, die Kommunikation ist gestört, der Adam wird nicht so recht lebendig.

Mich hat es irgendwie beruhigt, dass die Depression mit einer Störung des Neurotransmitterstoffwechsels zu tun hat. Fühlte ich mich doch ein wenig entlastet, musste nicht mehr so selbstverantwortlich für die Krankheit sein. Es kommt einem ja auch nicht in den Sinn, zu einem Diabetiker zu sagen: „jetzt reiß dich mal zusammen“. Jeder weiß, dass Diabetes eine Stoffwechselstörung ist, die mit Medikamenten ganz gut behandelt werden kann.

Sport und Beschäftigungstherapie
Die Angebote in der Klinik waren reichlich. Mir fiel es sehr schwer, morgens um acht Uhr in die Turnhalle zu gehen. Eine Zeit, in der die Stimmung in der Depression sich eher am Meeresgrund befindet. Aber nachdem ich die Erfahrung gemacht hatte, dass es mir nach dem Sport immer etwas besser ging als vorher, ging ich wieder hin.

Ich nahm auch an vielen anderen Angeboten teil. Nicht etwa, weil es mir Freude gemacht hätte, no fun, no joke beim Kegeln. Aber es war jedes mal wieder eine Stunde Zeit vergangen und manchmal gelang es mir sogar, auf andere Gedanken zu kommen. Insgesamt empfand ich die Zeit als nicht gelebt, ja als qualvoll und war froh um jeden überstandenen Tag.

Das Programm ist reichhaltig und eigentlich ist für jeden etwas dabei. Man kann sich fürs Töpfern oder Malen entscheiden, einfach so oder in einer interaktionellen Gruppe.

Selbsthilfegruppen
In den meisten größeren Städten gibt es Selbsthilfegruppen für an Depression erkrankte Menschen oder für deren Angehörige.

In Telefonbüchern, bei Kliniken, oder Gesundheitsämtern kann man die Adressen erfragen. Ich habe zu wenig Erfahrung, um darüber berichten zu können.

Schlafentzug
Man möchte meinen, wenn jemand so krank ist, sollte er wenigstens nachts seinen Schlaf haben. Aber der Schlaf ist in der Depression sowieso gestört. Zudem wurde festgestellt, dass gerade nach der ersten Tiefschlafphase biochemische Prozesse im Gehirn ablaufen, die das Gleichgewicht der Neurotransmitter durcheinander bringen.

Bilder aus Märchen
Die Nächte in einer Depression können schrecklich sein. Ich habe in dieser Zeit viele Bilder aus Märchen verstanden. Der eiserne Reifen um die Brust, findet sich wieder im Froschkönig: Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr in einen Frosch verwandelt worden war, dass er „drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge“. Als der König erlöst wurde und er es am Wagen hinter ihm krachen hörte, stellt er zunächst fest: „Heinrich der Wagen bricht“. Der treue Heinrich antwortet: „Nein Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen“ ... und noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg. Drei eiserne Bande für drei Depressionen und dreimal brachen die eisernen Ringe wieder auf.

Wer kennt sie nicht, die Geschichten der traurigen Prinzessinnen, denen nichts mehr gefällt, die kein Hofnarr mehr zum Lachen bringen kann? Ob da die Krake Depression im Schloss saß? Die Erlösung findet erst statt, „als die Zeit gekommen war“. Oder Märchen, in denen kleine Teufel um Mitternacht den Prinzen im Schloss mit glühenden Spießen bis zum Morgen quälen.

Freudlosigkeit, Qual, Schmerz und Angst sind ständiger Gast in der Depression.

Um den nächtlichen Teufeln zu entgehen, hilft tatsächlich, das Bett zu verlassen. So wird man in der Klinik um ca. 1:30 Uhr geweckt, man steht auf, zieht sich an und bekommt ein Frühstück, ein sehr frühes. Je nach Wetter spielt man im Aufenthaltsraum Brettspiele mit anderen „Schlafentzüglern“ oder geht in Begleitung einer Schwester eine Stunde spazieren.

Einfach ist das nicht, wach zu bleiben, wo einen alles niederdrückt. Aber es hilft. Zumindest am nächsten Tag. Man fühlt sich beinah gesund und weiß wieder wie es sein könnte ohne Depression. Hat man die Neurotransmitter ausgetrickst? Leider warten die Teufelchen schon wieder vor der Tür auf die nächste Nacht. Man fühlt sich wieder ausgeliefert, versucht wieder zu kämpfen, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Tagebuchschreiben
Für mich war das eine ganz wichtige Tätigkeit.

Zunächst war es einfach Beschäftigung. Ohne die Wirkung des Schlafentzugs zu kennen, bin ich schon zuhause nachts aufgestanden und habe geschrieben. Habe mit Wörtern gegen die Krake gekämpft und fühlte mich dabei nicht völlig machtlos, sondern habe irgendetwas getan, Buchstaben gemalt, Seiten gefüllt. Die Schrift ist selten zügig, meist zittrig und krake-lig (Wortspiel: Hat mir die Krake die Hand geführt?).

So ist jede meiner Depressionen festgehalten:

Die Unsicherheit bei der ersten Episode: „...was ist los mit mir, ich kenne mich nicht mehr, was ist das bloß, ich kann nicht mehr....“.

Bei der zweiten habe ich die Krake beschrieben und meine Aufnahme an einem Faschingsdienstag in die Nervenklinik festgehalten. Jetzt konnte ich schon nachschlagen über Symptome bei der vorangegangenen Erkrankung und auch immer wieder den Satz lesen: „Ich bin gesund, alles ist vorbei“. Es ist also möglich, wieder aus der Depression herauszukommen. Das war sehr tröstlich.

Am Ende der Depression steht da auch ein Gedicht von Andrea Schwarz, das ich irgendwo gefunden hatte:

„Ich lebe
mit Haut und Haaren
mit allen Poren
meiner Seele
und meines Körpers
Ich sauge gierig
das Leben in mich auf,
Mensch!
Muß ich tot gewesen sein.“

Diese Zeilen kann nur jemand voll verstehen, der einmal „depressionstot“ war. Ich kann seitdem auch das Wort „Auferstehung“ anders deuten.

Die Aufzeichnungen bei der dritten Erkrankung fangen damit an: „Ich dachte, die Krake sei verschwunden, aber sie war nur in eine Erdhöhle gekrochen. Sie ist wieder da. Wieder hat sie sich über mich gelegt, hält mich fest bis ich nichts mehr fühle als ihren Sog. Sie drückt ihr Gift in mich, das mich lähmt ....“.

Dieses dritte Buch endet mit der Beschreibung des Bildes: „... Jetzt schwimmt sie fort und ich winke ihr nach. Alles hat wieder seine Ordnung, die Menschen an Land, die Vögel in der Luft und die Meerestiere (die Krake) im Wasser“.

Zum Schluss möchte ich noch ein paar Dinge aufschreiben, die ich gerne weitergeben möchte. Schauen Sie einfach, ob für Sie was dabei ist:

Jede Depression geht vorbei. Die meisten können erfolgreich behandelt werden.

Treffen Sie während der Depression keine weitreichenden Entscheidungen wie Wohnungswechsel, Kündigung der Arbeit, Trennung, Scheidung.
Das hat Zeit bis Sie wieder gesund sind — wenn es dann noch nötig sein sollte.
Geben Sie auch ihr Haustier nicht weg. Wie froh war ich, als ich nach der Genesung meine Katze noch hatte, die ich in der Depression am liebsten verschenkt oder umgebracht hätte.
Sagen Sie Ihrem Arzt (Hausarzt, Facharzt für Psychiatrie, Nervenarzt, Psychotherapeut, Kriseninterventionseinrichtung oder Ambulanz in der Klinik) alle ihre Beschwerden. Reden Sie nicht nur von Schlaflosigkeit, sondern, wenn es so ist, erzählen Sie auch, dass Sie keine Freude mehr haben, nicht mehr weiter wissen, sich nur noch niedergedrückt fühlen, ständig grübeln müssen, oder, wenn Sie gar so verzweifelt sind, dass Sie am liebsten nicht mehr weiterleben möchten.
Vorsicht mit Beruhigungsmitteln (Tranquilizern). Sie machen süchtig – Antidepressiva nicht!
Bringen Sie sich nicht um!
Sie würden sonst nicht mehr erleben, wie es ist, wenn Sie wieder gesund sind.
Ihre Situation ist nicht ausweglos, das scheint nur so in der Depression.
Das Leben hält noch viel Schönes für Sie bereit!


Schluss

Manchmal werde ich gefragt, ob ich glaube, dass meine Depressionen einen Sinn gehabt haben. Zunächst habe ich immer geantwortet: „Nein, es war nur furchtbar. Es war wie eine nicht gelebte Zeit für mich. Nicht nur keine Lebensqualität, sondern nur schlimmes Leiden“.

Mittlerweile sehe ich es etwas differenzierter und meine, diese schweren Zeiten haben mich dankbarer gemacht. Nichts ist mehr selbstverständlich: nicht der Morgen nach der Nacht, nicht die Jahreszeiten. Ich kann noch mehr staunen über die Schönheiten der Natur, der Pflanzen, des Sternenhimmels und mich an kleinen Dingen freuen. Und ich bin sensibler geworden für das Leiden anderer, höre genauer hin, vor allem wenn jemand sagt „ich kann nicht mehr“. Ich frage nach und hüte mich vor „guten Ratschlägen“. Ich sage nicht mehr „reiß dich zusammen“, weil ich weiß, dass es sein kann, dass sie oder er einfach nicht mehr kann.

Aber ich kann vielleicht aufgrund meiner Erfahrungen Mut machen und Ängste vor Antidepressiva und Kliniken abbauen. Ich kann vermitteln, dass Depressionen behandelbar sind, vorbei gehen und mein Leben dann noch ein Stück wertvoller und schöner geworden ist.“


Elfriede I.

Etienne, männlich, 32 Jahre

Ich bin männlich, Jahrgang 1985, verheiratet, eine Tochter und berufstätig.

Im Sommer 2016 erkrankte ich an einer Depression. Bis ich die endgültige Diagnose hatte, verging, trotz frühzeitiger Behandlung, viel Zeit. Aber nun alles von Anfang an:

Erste Symptome und eine erste Diagnose

Alles fing damit an, dass bei mir im April/Mai 2016 Schlafstörungen auftraten. Anfangs waren die noch leicht. Dazu kamen dann nach einiger Zeit noch Panikattacken. Während eines zwei-wöchigen Urlaubs konnte ich mich nicht erfreuen, geschweige denn erholen. Im Gegenteil: Nach dem Urlaub wurden die Schlafstörungen und Panikattacken so stark, dass ich höchstens auf eine Stunde Schlaf pro Nacht kam.

Ich wusste nicht, was mit mir los war. Mein Glück war bzw. ist, dass ich einen sehr guten Hausarzt habe. Dort fiel zum ersten Mal das Wort Depression. Ich weiß noch genau, dass ich in diesem Moment zum ersten Mal das Gefühl hatte, nicht mehr zu wissen, wie mein Leben weitergehen sollte. Ich hatte das Gefühl, alles zu verlieren. Von einem geregelten Alltag war nicht mehr die Rede. Rationales Denken war nicht mehr möglich. Ich war nicht mehr ich selbst. So stelle ich mir unter anderem auch eine Demenzkrankheit vor. Ich konnte mir nichts mehr merken und war mit kleinsten Aufgaben überfordert.

Das Ausfüllen eines Formulars wurde zu einer unüberwindbaren Aufgabe. Ich konnte nicht mehr alleine bleiben. Selbst auf meine Tochter aufpassen - dazu war ich nicht mehr fähig. Besonders schlimm war, dass ich für meine Frau und mein Kind keine Gefühle entwickeln konnte. An Gesprächen konnte ich nicht mehr teilnehmen, da ich in meinen Gedanken gefangen war. Mehr noch: Es fühlte sich an, als ob ich in meinem eigenen Körper gefangen gewesen wäre.

Was ich inzwischen weiß ist, dass das bei einer Depression normal ist, da das Gehirn erkrankt ist und es keine positiven Gefühle entwickeln kann und auch nicht normal denkt bzw. arbeitet. Das war mir zum damaligen Zeitpunkt aber noch nicht bewusst. Ich wollte mich immer nur verkriechen und meine Ruhe.

Eine erste ambulante Behandlung und falsche Medikamenteneinstellung

Mein Hausarzt überwies mich zu einem Psychiater. Hier machte ich die Erfahrung, wie wichtig eine behutsame Einstellung der Medikamente und engmaschige Behandlung eines Facharztes ist. Leider tat dies meine behandelnde Psychiaterin nicht, und ich musste auch erfahren, dass Psychopharmaka Fluch und Segen zugleich sein können. Bei mir war es zuerst der Fluch. Wie sich später herausstellte, verschrieb mir die Psychiaterin eine gefährliche Medikamentenkombination und sagte mir, dass ich in zwei bzw. später in vier Wochen noch einmal zur Kontrolle kommen sollte. Inzwischen weiß ich, dass gerade am Anfang so einer Krankheit eine ärztliche Kontrolle alle paar Tage erfolgen sollte, um eine genaue Medikamenteneinstellung zu erzielen. In dieser Zeit entwickelten sich schlimme Gedanken bzw. ich hatte diese nicht mehr unter Kontrolle. Ich entwickelte Gedanken und Ängste mir etwas anzutun. Diese Gedanken wurden unerträglich. 

Klinikaufenthalt

Ich habe mich gemeinsam mit meiner Frau dazu entschieden, mich in eine Klinik einzuweisen. Das war die beste Entscheidung. Dort wurden die bis dahin verordneten Medikamente abgesetzt und eine neue, behutsame Medikamenteneinstellung begonnen. Die Depression und die damit verbundenen Suizidgedanken blieben zunächst. Ich fühlte mich total schlecht. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder aus dieser Krankheit und dem negativen Zustand herauskomme. Ich wollte absolut nicht in dieser Klinik sein. Aber zuhause ging es auch nicht, weil mir die Sicherheit fehlte, die die Klinik mir gegeben hat. Ich hatte das Gefühl, nicht in der Wirklichkeit zu leben. Das ganze Umfeld, sogar das Gewohnte kam mir fremd vor. Die erste Medikamenteneinstellung in der Klinik gab leider auch nicht die gewünschte Besserung, sodass ich erneut umgestellt wurde. Bis die richtigen Medikamente gefunden werden, kann einige Zeit vergehen. Bis die Wirkung einsetzt, können einige Tage bis Wochen vergehen. Vom ersten Tag meiner Krankheit habe ich auf den Tag gewartet, an dem es mir endlich besser geht.

Man hofft, morgens aufzuwachen und sich besser zu fühlen. Ich wurde über Wochen jeden Tag auf ein Neues enttäuscht. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich überhaupt merke, wenn es mir besser geht. Die Besserung trat nach ca. zwei Monaten Klinikaufenthalt ein. Die Antriebslosigkeit hörte auf, meine negativen Gedanken wurden weniger. Als ich schließlich nach insgesamt zweieinhalb Monaten entlassen wurde, dachte ich, dass ich wieder komplett gesund sei. Die depressiven Momente waren aber immer noch da und ich merkte, dass es irgendwie nichts wie früher ist. Mir wurde von den Ärzten gesagt, dass das bei dreiviertel der entlassenen Patienten so wäre. Der Rest der Genesung würde aber noch eintreten. Dies war bei mir dann nach ca. einem weiteren Monat nach Entlassung der Fall.

Gefühlswelt

Neben den negativen Gedanken nichts mehr wert zu sein, den Schuldgefühlen sowie den dauerhaften Grübelgedanken waren die Schlafstörungen besonders schlimm. Über mehr als vier Monate war das Schlafengehen eine Qual.

Wenn ich nach eineinhalb bis zwei Stunden eingeschlafen war, bin ich nach vier bis fünf Stunden wieder aufgewacht. Sogar mit Schlaftabletten. Ohne die kam ich meist gar nicht zum Schlafen. Wenn ich dann wieder wach war, konnte ich nicht mehr schlafen, hatte aber auch keine Kraft aufzustehen. Eine Aussage, die ich sehr oft von Ärzten und Familienangehörigen gehört habe, war: „Hab Geduld, das Ganze braucht Zeit, du wirst wieder gesund.“ Ich selber hatte das Gefühl, dass mir auf irgendeine Weise die Zeit wegläuft und den Glauben, dass ich wieder gesund werde, hatte ich sowieso verloren.

Die Zeit nach meiner Depression:

Die Depression kam schleichend und ging schleichend. Ich bin nun wieder in der Lage, mein normales Leben zu führen. Mir hat am Ende die richtige Medikamenteneinstellung geholfen. So konnte ich doch noch erfahren, dass Psychopharmaka auch ein Segen sein können. Ich hoffe, die Medikamente irgendwann wieder absetzen zu können. Die parallel laufende Therapie war in meinem Fall zweitrangig. Genauso hat mir der Rückhalt, den ich von meiner Frau und meiner Familie erfahren habe, geholfen. Auch wenn die meistens mit meiner Krankheit überfordert waren. Mein Arbeitgeber zeigte von Anfang an Verständnis und hat mich während der gesamten Zeit in Ruhe gelassen. Mein Hausarzt war bzw. ist auch ein wichtiger Baustein. Er hat meine Depression nicht nur frühzeitig erkannt, sondern hat mich während der Krankheit - und auch bei der jetzigen Nachbehandlung - immer fürsorglich betreut. Ein vertrauensvolles Ärzte-Patienten-Verhältnis habe ich bei dieser Art von Krankheit als besonders wichtig empfunden.

Was ich aber über die ganze Zeit als positiv erfahren habe, war die Resonanz mit meinem offenen Umgang. Sowohl in der akuten Phase als auch danach. Auch andere Betroffene, sogar aus meinem direkten Umfeld, von denen ich es nicht wusste, haben sich mir anvertraut. Dies hat mir sehr den Druck genommen und ich habe mich mit meiner Krankheit nicht versteckt, sondern konnte offen damit umgehen.


Manuela, weiblich, 52 Jahre

Ich bin weiblich, 52 Jahre alt, verheiratet, 3 erwachsene Kinder, frühpensioniert.

„Meine Depression wurde 2004 nach einem Zusammenbruch im Urlaub diagnostiziert. Heute weiß ich, dass sie schon in Teenagertagen begonnen hat und in Episoden immer wieder und immer stärker auftrat.

Ich wurde mit Antidepressiva und regelmäßigen Gesprächen ambulant behandelt, erholte mich, ging die ganze Zeit weiter arbeiten.

Im Frühjahr 2008 ging dann nichts mehr. Ich ging für knapp 5 Monate stationär in eine Klinik, weitere 5 Monate war ich als Tagespatientin in derselben Klinik. Ich habe 2 Arbeitsversuche gehabt, die scheiterten, und wurde daraufhin aus Gesundheitsgründen frühpensioniert.

Ich habe vieles in meinem Leben verändert, lebe sehr ruhig unter weiterer Medikation und Gesprächstherapie und bin seit einem Jahr weitgehend stabil.

Wichtig auf meinem Weg zurück in ein lebenswertes Leben waren Akzeptanz der Krankheit und viel Geduld. Ich versuche das Wörtchen „muss“  möglichst aus meinem Denken zu streichen und ersetze es durch „darf…möchte….kann“. Das nimmt viel Druck aus meinem Alltag.

Ich habe gelernt wie viel ich mir zumuten kann und bin heute auch bereit meine Belange zu vertreten und durchzusetzen (ohne schlechtes Gewissen).“